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Kultur fördern in Bern

Von Dorothe Freiburghaus / Christoph Reichenau — Bern sucht eine Strate­gie für die Kul­tur­förderung 2016–2019. Im Som­mer 2015 sollen die Stimm­berechtigten entschei­den. Eine wichtige Rah­menbe­din­gung bildet das neue kan­tonale Kul­tur­förderungs­ge­setz. Über Vieles kann indes frei bes­timmt wer­den. Sechs Über­legun­gen für die begin­nende Diskus­sion.

1. Kul­tur­förderung ist eine gemein­same Auf­gabe Kul­tur ist ein Mit­tel zum Leben. Die Kün­ste bilden unsere Sinne, öff­nen die Augen, helfen fein­er zu hören, sprechen den Möglichkeitssinn an. „Der Kern jed­er Kun­ster­fahrung beste­ht darin, dass wir uns durch sie mehr vorstellen kön­nen als zuvor“ (Wil­helm Genazi­no). Kun­st hil­ft erken­nen, Wahrheit­en suchen, Werte ver­ste­hen und vertei­di­gen. Kul­tur ist Probe­han­deln und soziales Labor. Die Gesellschaft ist auf die dünne Kul­turschicht angewiesen, wenn sie zivil­isiert bleiben will. Diese Schicht schaf­fen neben anderen die Kün­st­lerin­nen und Kün­stler. Sie benöti­gen für ihre Arbeit Frei­heit und Unter­stützung. Kul­tur­förderung ist also in erster Lin­ie Förderung der Frei­heit der Kün­st­lerin­nen und Kün­stler. Voraus­set­zung ist Ver­trauen in sie. Denn let­ztlich kann, so hat es der Gemein­der­at der Stadt Bern im Kul­turkonzept 1996–2008 geschrieben, „das kün­st­lerische Schaf­fen (…) nie ganz ver­standen und in der Gesamtheit gerecht und rechtzeit­ig gefördert wer­den. Was wirk­lich neu und einzi­gar­tig ist, wirkt im Entste­hen oft so fremd, dass es in sein­er Bedeu­tung nicht ohne weit­eres erfasst zu wer­den ver­mag.“ Doch: Der Beitrag der öffentlichen Hand ist nur die eine Hälfte dessen, was Kul­tur­förderung bedeutet. In sein­er Rede zum 75-jähri­gen Geburt­stag des Schrift­stellers Hugo Loetsch­er hat der dama­lige Bun­desrat Moritz Leuen­berg­er Kul­tur­förderung auch als Leis­tung der Kün­st­lerin­nen und Kün­stler beschrieben: „Kul­tur­förderung beste­ht nicht grund­sät­zlich aus Sub­ven­tio­nen, son­dern vor allem darin, die Fähigkeit des Inter­essierten zu fördern und zu schär­fen, näm­lich zu ler­nen, Kul­tur zu erfahren. Dies kann nicht in der Res­i­denz des dich­ter­ischen Olymps bewirkt wer­den, son­dern nur durch den Gang zu uns, durch die Liebe zu uns und mit dem Willen, zu uns zu gehören, mit uns zu sprechen, sich um unsere täglichen Kleinigkeit­en eben­falls zu küm­mern, auch sie zu beschreiben, lit­er­arisch zu fassen, uns auf diese Weise abzu­holen und uns damit neue Fen­ster auf andere Strassen und Gärten des Lebens zu öff­nen. Das ist Kul­tur­förderung, das ist die Arbeit in und an ein­er Gesellschaft, in der jede und jed­er mitver­ant­wortlich sein will.“

2. Teil­habe an der Kul­tur Kunst­werke und Dar­bi­etun­gen ver­ste­hen sich oft nicht von selb­st. Kun­st und Kul­tur brauchen Ver­mit­tlung. Ver­mit­tlung bein­hal­tet zweier­lei: Es geht darum, Men­schen ein Kunst­werk oder eine kün­st­lerische Dar­bi­etung näher zu brin­gen. Und es geht um Mass­nah­men, um die gesamte Bevölkerung stärk­er am kul­turellen Geschehen teil­haben zu lassen. Teil­habe bedeutet, die Kul­tur in ihren Ursprün­gen und Erschei­n­ungs­for­men zu ver­ste­hen, zu nutzen und unter Umstän­den durch eigene Betä­ti­gung auszuüben und weit­er zu entwick­eln. Teil­habe bed­ingt ein Train­ing der Wahrnehmung, der Aufmerk­samkeit, des Dif­feren­zierens. Nicht alle Men­schen haben die gle­iche Vor­bil­dung, Möglichkeit und die Bere­itschaft, um sich auf Kun­st und Kul­tur ein­lassen zu kön­nen. Zur Kul­tur­förderung gehört es deshalb, die ver­schiede­nen Bevölkerungs­grup­pen “abzu­holen“. Mit öffentlichem Geld Kul­tur zu fördern, ohne die Teil­habe daran zu ermöglichen, darf nicht sein. Kul­turver­mit­tlung muss nach unter­schiedlichen Bedürfnis­sen unter­schiedlich­er Bevölkerungs­grup­pen dif­feren­ziert wer­den. Das heisst in erster Lin­ie: Sie ist mit den Beteiligten zu gestal­ten, nicht für sie. Ein Pro­gramm, das der Bedeu­tung der kul­turellen Teil­habe entspricht, fehlt in der Stadt. Und wichtig: Wenig wird getan für die Ver­mit­tlung unser­er Kul­tur an die Migran­tinnen und Migranten und nicht viel zur Förderung ihrer Herkun­ft­skul­turen. Wir müssen uns dafür stärk­er ein­set­zen.

3. Basis­lager Bern Wer auf den Mount Ever­est will, errichtet ein Basis­lager. Es dient der Akkli­ma­tisierung sowie der Erkun­dung der Route zum Ziel. Und es dient der Einübung in die Zusam­me­nar­beit des Teams. Das Basis­lager liegt weit über dem Tal­grund und deut­lich unter­halb des Gipfels. Für die meis­ten Kun­stsparten ist Bern nicht „der Gipfel“. Für alle muss unsere Stadt min­destens Basis­lager sein. Basis­lager ist nicht auss­chliesslich geo­graphisch bes­timmt. Das Wort bein­hal­tet auch die Voraus­set­zung und den Willen, auf den Gipfel zu gelan­gen. Es zeugt also von real­is­tis­ch­er Stan­dortbes­tim­mung, von klar­er Ori­en­tierung sowie vom Willen und Ehrgeiz, das höhere Ziel zu erre­ichen. Wir haben die Idee vom Basis­lager Bern nicht erfun­den. Das Wort ins Gespräch gebracht hat vor ein paar Jahren Peter Stämpfli. Wir nehmen es auf, um ins Gespräch einzutreten und um Wichtiges, das gesagt wor­den ist, nicht zu vergessen. Für uns stimmt das Basis­lager als Kennze­ichen dessen, was die Kul­tur in Bern sein soll. Auch wenn in eini­gen Sparten immer wieder Spitzen­leis­tun­gen geboten wer­den, im Ganzen soll Bern ein Basis­lager für die Kün­ste sein: Nicht weit unter dem Gipfel, in Sicht- und Marschdis­tanz, guter Aus­gangs- und Erprobung­sort, auf die Spitze aus­gerichtet. Nur ein Basis­lager? Nein, ein Basis­lager. Ein Camp aller Kul­turschaf­fend­en aller Sparten. Ein Ort, wo das Gemein­same gepflegt, wo Kon­tak­te selb­stver­ständlich, wo Koop­er­a­tion und gegen­seit­ige Unter­stützung – wo vor allem gegen­seit­iges Inter­esse an der Arbeit – neu belebt wer­den. Ohne Seilschaft ist man am Berg ver­loren, ohne Net­zw­erk funk­tion­iert nicht viel.

4. Mehr Gemein­sames Mit wenig Mit­teln schaf­fen es zum Beispiel die Vere­ine Bien­nale Bern und Musik­fes­ti­val Bern, jedes zweite Jahr feine Pro­gramme zu bieten, die das Poten­tial der beste­hen­den Ensem­bles und Häuser nutzen, um gemein­sam Beson­deres zu wagen. Das ist ein Erfol­gsmod­ell – gün­stig und gegen­seit­ig anre­gend. Dies liesse sich aus­bauen? Warum kein jährlich­er Kul­turtag der Aktiv­en aller Sparten und Arten (auch der Volk­skul­tur). Ein Teil dient der Diskus­sion inner­halb der Szene, ein ander­er der Aussprache mit Kul­tur­in­ter­essierten, auch aus der Poli­tik. Eine ein­fache Zusam­menkun­ft bei einem Glas Wein. Ein Zeichen, was Kul­tur ist und kann. Der Gedanke lässt sich weit­er spin­nen. Man kön­nte ein The­ma vorschla­gen, zu dem alle Kul­turschaf­fend­en Beiträge aller Art und Form leis­ten. Polemisch kommt einem nach der Abstim­mung vom 9. Feb­ru­ar die Frage „Was ist ein richtiger Schweizer/eine richtige Schweiz­erin?“ in den Sinn. Was wäre Car­lo Lis­chet­ti selig, dem Gegen­wart, dazu einge­fall­en! Ein Ergeb­nis gäbe es nicht, aber Ergeb­nisse, Anstösse, weit­ere Fra­gen – die ganze Stadt kön­nte, dürfte, müsste, sollte sich mit einem The­ma auseinan­der­set­zen.

5. Geld Über Geld reden muss, wer es nicht hat. Der ganze Bere­ich „der Kul­tur“ – eine Hand­voll Spitzen­ver­di­ener ausgenom­men – ist ständig auf Geld­suche und ver­pufft dabei einen erhe­blichen Teil sein­er kreativ­en Energie. Kul­tur ist eine Infra­struk­tur der Gesellschaft. Kul­tur­pro­duk­tion wird auch wirtschaftlich immer wichtiger. Kul­tur fördern heisst also, die Men­schen zu bere­ich­ern, die Gesellschaft zu stärken und die Wirtschaft zu beleben. Dafür gibt die Stadt Bern heute etwa 9% des Steuer­ertrags oder 4,5% ihres Gesam­taufwands aus. Das sind 260 Franken pro Kopf der Bevölkerung. Nicht wenig. Aber doch nicht genug. Mit 20 Franken mehr pro Kopf käme so viel zusam­men, dass weit mehr möglich wäre. Für uns alle. Wir wis­sen aber alle, dass auf mehr Geld in dieser Zeit kaum geset­zt wer­den kann. Mehr Geld allein würde auch das Grund­prob­lem nicht lösen, son­dern nur ver­schleiern. Das Grund­prob­lem ist, dass es immer mehr gut aus­ge­bildete, überzeu­gende Kul­turschaf­fende gibt, die Förderung benöti­gen und ver­di­enen. Bei gle­ichviel Geld wird eine gerechte Verteilung, die nicht in erster Lin­ie den Besitz­s­tand vertei­digt, immer schwieriger. Klar ist: „Die“ Lösung kann es nicht geben. Miteinan­der kön­nen wir aber ver­suchen, eine überzeu­gen­dere, gerechtere Verteilung zu find­en.

6. Nur gemein­sam sind wir stark Wir fassen unsere Über­legun­gen so zusam­men:

- Kul­tur­förderung ist eine gemein­same Auf­gabe des öffentlichen Gemein­we­sens und der Kun­stschaf­fend­en. Eine Strate­gie für die Kul­tur­förderung muss in gemein­samer Diskus­sion fest­gelegt wer­den.

- Kul­tur, an der nicht möglichst viele teil­haben, kann wenig bewirken. Ver­mit­tlung der Kul­tur ist zwin­gende Ergänzung ihrer Förderung – ja ist sel­ber Förderung.

- Bern soll ein Basis­lager der Kul­tur sein. Ein Camp aller Kul­turschaf­fend­en aller Sparten.

- Die Kul­turschaf­fend­en organ­isieren jährlich den Kul­turtag zur Begeg­nung mit den Leuten, mit dem Pub­likum. Die Bear­beitung eines gemein­samen The­mas kann die Begeg­nung bere­ich­ern.

Und jet­zt? In der Kul­turszene wird oft eine zielo­ri­en­tierte, mutige Poli­tik gefordert. Geht es um Förder­entschei­de und um Leis­tungsvere­in­barun­gen, schauen die meis­ten nur für sich. Dabei ist klar: Bei stets knap­pen Mit­teln ist wirk­same Förderung nur möglich, wenn alle Beteiligten in trans­par­enter Diskus­sion aushan­deln, wohin die Gelder fliessen sollen – und wohin nicht (mehr). Gefragt sind Konzepte und eine bre­ite gesellschaftliche Debat­te. Kein Argu­ment ist die Wahrung des Besitz­s­tands. Die Peri­odiz­ität der Kul­tur­förderung und –finanzierung öffnet alle vier Jahre die Chance, die Bedürfnisse des Pub­likums, der Kul­turschaf­fend­en und Kul­turein­rich­tun­gen neu zu ermit­teln, gemein­sam auszu­tari­eren und eine Vorstel­lung für die kom­mende Zeit zu entwick­eln. Genau dies soll­ten wir jet­zt tun. Zusam­men. Nur gemein­sam sind wir stark.

Bern, 27. Feb­ru­ar 2014

Dorothe Freiburghaus
Christoph Reichenau